Foto „Vor der Grubeneinfahrt. Schichtanfang“, um 1934, Barytpapier, 18,8 x 17,8 cm, Inv.-Nr.: rz 04/451 © LVR-Industriemuseum, Foto: Anne Winterer
Kurz vor ihrem Schichtbeginn wurde eine Gruppe von Bergleuten fotografiert. Einige Männer schauen hoch und lächeln in die Kamera, manche lehnen sich ihr sogar entgegen. Andere halten den Blick gesenkt und verbergen ihr Gesicht unter ihren Hutkrempen. Die Fotografin Anne Winterer wählte eine erhöhte Position – eine Perspektive, die der Stilrichtung des Neuen Sehens entspricht.
Der Begriff „Neues Sehen“ beschreibt eine moderne Stilrichtung der Fotografie, die in den 1920er Jahren mit der Erfindung der Kleinbildkameras entstand. Fotografen oder Lichtbildner, wie sie auch genannt wurden, konnten sich ohne große Plattenkameras freier bewegen und ihre Ateliers verlassen. Diese Neuerung veränderte den Blick durch die Kamera. Mit der Bewegungsfreiheit wuchs auch das Interesse an Experimenten mit fotografischen Techniken. Ehemals strenge, gerade Perspektiven wichen neuen Blickwinkeln. Die Fotografen wählten steile Auf- oder Untersichten, produzierten Detail- oder Nahaufnahmen und arbeiteten mit diagonalen Bildachsen. So entstanden dynamische Bilder mit starken Kontrasten und ungewöhnlichen Lichtverhältnissen.
Winterers Stil entsprach zu großen Teilen den Gestaltungsauffassungen des Neuen Sehens. Mit einer kleinen Boxkamera der Marke Rolleiflex ging Winterer ihrer Arbeit nach und gestaltete Fotos mit engen Bildausschnitten und unkonventionellen Blickwinkeln. Das Bild der Bergleute ist eine typische Gruppenaufnahme in diesem Stil.
Heute wird das Neue Sehen teilweise mit der Bildsprache des Nationalsozialismus assoziiert. In der Weimarer Republik entstanden, wurde die Stilrichtung in Presse und Werbung verwendet und an Fach- oder Hochschulen diskutiert und vermittelt. Ab den 1930er Jahren wurde das Neue Sehen dann in den Dienst nationalsozialistischer Bildpolitik gestellt und für propagandistische Zwecke eingesetzt. So auch einige von Winterers Bildern. Über die politische Gesinnung der Fotografin ist heute allerdings nichts bekannt.
Thea Schneider
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