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Garçonnekleid

1920 - 1929

Cremfarbenes Westenoberteil mit schwarzem Unterkleid

Garçonnekleid, Seide, Perlmutt, 1920 - 1929, 103 x 58 cm, Inv.-Nr.: ra 01/910 © LVR-Industriemuseum, Foto: Jürgen Hoffmann

Dieses Seidenkleid erinnert durch seine Zweiteilung in ein helles Oberteil und einen schwarzen Rock an die Herrenanzugmode und steht damit beispielhaft für die Androgynität der Garçonne – ein Frauentyp, der im kulturellen Gedächtnis der Goldenen Zwanziger Jahre fest verankert ist.

Die „Neue Frau“ ist äußerlich erkennbar an abgeschnittenen, zum Bubikopf frisierten Haaren und den nur noch bis knapp unters Knie reichenden Hängekleidchen, die sich durch ihren Pailletten- und Perlenbesatz hervorragend zum modernen Charleston-Tanz eignen. Durch den geraden Schnitt mit tief angesetzter Taille negiert diese Mode jegliche weibliche Rundung, androgyne Formen sind in. Die „Neue Frau“ ist selbstbewusst, emanzipiert und modern und nimmt sich auch neue Freiheiten: Erstmals wagt sie es, in der Öffentlichkeit zu rauchen und zu trinken.


Dann betritt die Garçonne die Bühne. Der Begriff bezeichnet die weibliche Form des Garçon, des jungen Mannes. Er geht zurück auf den gleichnamigen Roman des französischen Autors Victor Margueritte von 1922. Die Garçonne trägt Hosen, was selbst in den 1920er Jahren, bis auf wenige Bereiche wie den Sport, ausschließlich Männern vorbehalten war.


In der androgynen Garçonne kulminieren die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Brüche zwischen den Geschlechtern. Die Geschlechtergrenzen scheinen aufgehoben – sie verkörpert den Anspruch auf die weibliche Emanzipation und verunsichert mit ihrem radikalen Auftreten und Erscheinungsbild. Auch wenn nach wie vor die Bilder der „Neuen Frau“ und der Garçonne unsere Vorstellungen von den Zwanziger Jahren prägen, konnte die Mehrzahl der Frauen diesem neuen Ideal und dem damit verkörperten Lebensstil schon aus ökonomischen Gründen nicht entsprechen.


Garçonnekleider sind nur äußerst selten überliefert. Das Garçonnekleid aus der Sammlung des LVR-Industriemuseums setzt die Ambivalenz der Geschlechter auf spielerische Art und Weise um. Durch seine Teilung in ein weißes, hemdähnliches Ober- und ein schwarzes Unterteil erinnert es stark an einen Herrenanzug. Doch bei näherer Betrachtung tritt ein interessantes Detail ans Licht. Das Oberteil, das nicht mit dem Rockteil zusammen, sondern überlappend genäht ist, lehnt sich an die Form der klassischen Herrenweste an: Es reicht bis zur Taille, ist ärmellos und hat einen V-Ausschnitt. Mittig wird es einreihig mit vielen kleinen Perlmuttknöpfen geschlossen und die Vorderteile laufen in spitzen Ecken aus. Für eine Frack- bzw. Anzugweste ist weiß allerdings eine ungewöhnliche Farbe. Es handelt sich um ein Seidenkleid, dem Inbegriff weiblicher Eleganz. Seide ist spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund ihrer Zartheit und Fragilität weiblich konnotiert. Außerdem ist das Kleid an sich eines der wenigen Kleidungsstücke, das überwiegend von Frauen getragen wird. Kombiniert mit männlichen Accessoires wird die feminine Note negiert, die Androgynität verstärkt: So tritt die typische Garçonne wie Marlene Dietrich vorzugsweise mit einem Frack und einem Zylinder bekleidet auf.


Autorin: Alexandra Hilleke


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