Musterstück einer Damenjacke, 1963, Wollflanell, verstärkt mit Rosshaar, 68 x 40 x 5 cm, Inv.-Nr.: eu 99/408, © LVR-Industriemuseum, Foto: Jürgen Hoffmann
Neben Alltagskleidung der letzten 300 Jahre sammelt das LVR-Industriemuseum auch textile Objekte, die den Herstellungsprozess von Kleidung dokumentieren. Dazu gehören unter anderem Arbeitsproben, Übungs-, Gesellen- und Meisterstücke.
Ein Beispiel aus diesem Sammlungsbereich ist das hier vorgestellte linke Vorderteil einer Damenjacke. Gefertigt wurde es von Waltraud Diekmann, geb. Ellers, die 1954 im Betrieb ihrer Mutter eine Ausbildung zur Damenschneiderin begann und 1963, mit 24 Jahren, ihre Meisterprüfung ablegte.
Das Musterstück aus grauem Wollflanell spiegelt die Mode in der ersten Hälfte der 1960er Jahre wieder. Es ist sehr sorgfältig gearbeitet: Brusttasche, Paspeltasche mit Klappe, Revers und Kragen sind gerade und exakt genäht. Dreht man das Stück auf links, so sieht man, dass das Teil sorgsam mit verstärkendem Rosshaar unterlegt ist. Ebenso ordentlich sind die von Hand gestickten Knopflöcher gearbeitet, die als getrenntes Teil hinzugefügt sind. Das aufgenähte Namensschildchen aus Pappe dokumentiert den zeitlichen Arbeitsaufwand, der benötigt wurde: 18 Stunden, also zwei ganze Arbeitstage!
Solche Musterstücke sind auch heute noch Bestandteil der fünftägigen Gesellenprüfung im Damenschneiderhandwerk. Die Prüfung beinhaltet die Herstellung einer Kombination – Jacke mit Hose oder Rock – für die etwa drei Tage eingeplant sind und die Anfertigung des Musterstückes. Gerade letzteres erfordert ein großes Maß an Fingerfertigkeit, Konzentration und Geduld. Die nervliche Belastung, alles so exakt zu arbeiten, dass es millimetergenau mit der vorgegebenen Musterzeichnung übereinstimmt, ist ausgesprochen groß. Der Zeitdruck setzt den Prüfling zusätzlich unter Stress. So ist es verständlich, dass viele Schneider ihr Musterstück mit Stolz aufbewahren. Bei der Gesellenprüfung im Herrenschneiderhandwerk hingegen entfällt die Herstellung eines Musterstückes, da alle geforderten nähtechnischen Fähigkeiten schon mit der Fertigung des Gesellenstückes, einem Herrensakko, bewiesen werden müssen.
Da heute der größte Teil unserer Kleidung als Konfektionsware in Billiglohnländern industriell hergestellt wird, sind Maßschneiderbetriebe kaum noch zu finden. Die Ausbildung zum Damen- oder Herrenmaßschneider wählt man in der Regel nicht, um das Handwerk später auszuüben, sondern als Einstieg für Berufe im Bereich Design- oder Textiltechnik.
Caroline Lerch
Hat Ihnen das Objekt gefallen? Haben Sie weitere Informationen für uns oder eine Geschichte darüber zu erzählen?
Dann schreiben Sie an sammlung-online@lvr.de!