Kunststoff - gemeinhin Plastik genannt - ist der Werkstoff des 20.und 21. Jahrhunderts. Seiner gesellschaftlichen und kulturhistorischen Bedeutung von den Anfängen bis in die Gegenwart widmet sich diese Sammlung. Kunststoffe haben eine Geschichte und erzählen Geschichten. Die Vorgänge um die Erfindung von Kunststoffen, der Wettlauf um Patente und die Durchsetzung dieser Werkstoffe am Markt bieten reichlich Stoff für spannende Wissenschafts- und Wirtschaftskrimis. Die Anwendungen von Kunststoffen zeigen die Unverzichtbarkeit dieses modernen Werkstoffes in fast allen Bereichen unseres täglichen Lebens.
1986 wurde der Kunststoff-Museums-Verein auf Initiative von Vertretern aus der Kunststoffbranche und der Natur- und Ingenieurwissenschaften gegründet. Die Satzung des Vereins skizziert das umfassende Programm, die wissenschaftliche, technische, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung der Kunststoffe in Vergangenheit und Gegenwart in umfassender Weise darzustellen und einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Dazu wurde eine Sammlung aufgebaut, die bis heute durch Ankäufe, aber in erster Linie durch Schenkungen auf etwa 20.000 Objekte angewachsen ist. Sie umfasst Gegenstände aus fast allen Anwendungsbereichen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute. Im Juni 2017 wurde diese Sammlung als Dauerleihgabe dem LVR-Industriemuseum übergeben.
Die ersten Spuren chemischer Verfahren zur Herstellung von natürlichen Kunststoffen lassen sich bis in die Steinzeit zurückverfolgen. Birkensaft wurde durch Kochen eingedickt, um einen Kleb- und Dichtstoff zu erhalten.
Danach findet man immer wieder natürliche Polymere aus pflanzlichen oder tierischen Ausgangsstoffen. Schellack aus dem Sekret einer südostasiatischen Schildlaus wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur Herstellung zahlreicher Gegenstände verwendet wie Handspiegel, Schreibtischgarnituren oder Schatullen zur Aufbewahrung der ersten Fotografien. Als Material für die ersten Schallplatten ist dieser Werkstoff Teil der Mediengeschichte. Ein anderer Werkstoff auf Basis von natürlichen Rohstoffen ist das sogenannte Bois Durci. Es handelt sich um die Erfindung eines französischen Fotografen zur Herstellung einer plastischen Masse aus Rinderblut und Holzmehl. Dieses Material ist ein frühes Beispiel von Recycling: die Rohstoffe sind Abfallprodukte aus den Pariser Schlachthöfen bzw. der Möbelindustrie.
Cellulose aus Baumwolle oder Holz schuf die Grundlage für den ersten Kunststoff als Massenphänomen. Das "Celluloid" (Cellulosenitrat) war leicht zu verarbeiten, preiswert und konnte in unendlichen Farbvariationen hergestellt werden. Eine amerikanische Erfindung machte es 1884 unsterblich: Charles Eastman entwickelte aus dünnen Streifen dieses Materials den Film.
Als Kunststoff im modernen Sinn gilt Celluloid dennoch nicht. Dieser Ruhm gebührt dem Phenol-Formaldehyd-Harz, dem ersten vollsynthetischen Kunststoff, bekannter unter dem Markennamen "Bakelit", der 1907 patentiert wurde. Es basiert auf dem Phenol, das bei der Herstellung von Teer aus Steinkohle anfällt.
1923 bekommt die Geschichte der Kunststoffe noch einmal einen entscheidenden Impuls: Hermann Staudinger präsentiert die Theorie der Makromoleküle, die die Vorgänge bei der Entstehung dieser plastischen Massen erklärbar macht.
In den 1960er Jahren löst Erdöl die Steinkohle aus Ausgangsmaterial für viele Kunststoffe endgültig ab. Angesichts knapper werdender Ressourcen wird heute mehr und mehr über die Herstellung von Kunststoffen aus nachwachsenden Rohstoffen nachgedacht. Plexiglas aus brasilianischem Zuckerrohr ist beispielsweise keine Utopie mehr.
Die Sammlung dokumentiert jedoch nicht nur die Materialien, sondern auch ihre Verarbeitung. Kunststoffmaschinen zum Beispiel, ergänzt durch historische Fotografien illustrieren Arbeitsabläufe bei der Verarbeitung von Kunststoffen.
Von der banalen Folie zur Verpackung von Lebensmitteln bis zur HighTech-Anwendung in der Medizin, man findet heute kaum einen Lebensbereich, in dem keine Kunststoffe verwendet werden.
Anfangs eroberten sich Kunststoffe ihren Platz als Ersatz für andere Werkstoffe. Die Milchkanne aus Polyethylen hat einen entscheidenden Vorteil im Verhältnis zur Kanne aus Blech oder Zink. Sie ist leichter als ihr Vorbild. Die Formgestaltung lehnt sich dabei an das metallene Objekt an. Ähnliches passiert bei vielen Alltagsgegenständen, die jedoch dank moderner Technik mit Zusatznutzen versehen wurden.
Für die tägliche Körperpflege ist die Zahnbürste mit Borsten aus Kunststoff unverzichtbar. Die Alternative wären Naturborsten, aber die sind hygienisch und unter Tierschutzaspekten bedenklich. Die künstlichen Borsten ermöglichen sehr unterschiedliche Eigenschaften: in sich gedreht erzielen sie beispielsweise bessere Reinigungsergebnisse.
Die Möglichkeiten des Werkstoffs faszinierten Designer schon seit den 1920er Jahren. Neben anonymen Produkten entstanden Objekte, die heute den Status als Designklassiker genießen.
Ein bekanntes Beispiel ist der sogenannte Panton-Chair. Der dänische Designer Verner Panton hatte in den 1960er Jahren die Idee, den berühmten Bauhaus-Freischwinger aus Stahlrohr in Kunststoff umzusetzen. Seine Lösung bestand aus organischen Formen in quietschbunten Farben und spiegelt in perfekter Weise den Zeitgeist der beginnenden Pop-Ära wieder.
1971, fast zur gleichen Zeit, kam ein ganz anderes Kultobjekt aus Kunststoff auf den Markt. Mit bis heute 16 Millionen verkauften Exemplaren ist das "Bobby Car" ebenso erfolgreich wie der VW Golf, nur wesentlich umweltfreundlicher. 1995 gibt es sogar eine Edition aus Kunststoff-Recyclat mit Aufklebern, die der Künstler Otmar Alt kindgerecht farbig gestaltet hat.
Und es wird weiter gesammelt, denn es geht nicht nur um Kunststoffe in der Vergangenheit, sondern es sollen auch aktuelle Entwicklungen beobachtet und dokumentiert werden. Digitalisierung, Individualisierung und Nachhaltigkeit sind Trends, die die industrielle Produktion heute und in der Zukunft verändern werden. Aus dem Jahr 2016 stammt der Prototyp eines Leichtbauhockers, den das Leibniz-Institut für Polymerforschung, Dresden, entwickelt hat. Er wiegt gerade mal 500 g, kann aber über 200 kg tragen. Das am Computer errechnete Design erreicht mit einem Minimum an Materialeinsatz eine extrem hohe Effizienz. Für die Wohnung zu Hause ist das sicher nicht so notwendig, aber für den Bau von Autos oder Flugzeugen sind solche Lösungen, die zur Energieeinsparung beitragen, zukunftsweisend.